"Wir sitzen vor den Scherben der Selbstbilder von Kirche, an die wir lange geglaubt haben.“ Mit diesem schonungslos offenen Satz hat Bischof Dr. Helmut Dieser als Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz ein Podiumsgespräch in der Kölner Karl Rahner Akademie eröffnet, in dem es um eine Bilanz fünf Jahre nach der Veröffentlichung der MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen ging.
Der Aachener Bischof fügte drastisch hinzu: „Ich glaube auch, dass wir am Ende nichts mehr haben werden, worauf wir als Kirche noch stolz sein können. Wir werden blank dastehen.“ Die Menschen bräuchten eine Kirche, die nicht mit falschen Bildern von sich selbst unterwegs sei. Zum Schluss stünde die Frage, ob man noch an Gott glaube, denn „nur an ihm können wir uns noch aufrichten“.
Zu dem Gespräch in der Reihe „frank & frei“ unter Leitung des Journalisten Joachim Frank waren außerdem der Staatsrechtler Prof. Dr. Stephan Rixen, Kai Christian Moritz aus dem Sprechergremium des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz und die Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Birgit Mock, eingeladen. Die Diskussion fand unter dem Eindruck der aktuellen Aufdeckung von Missbrauchstaten durch den Essener Kardinal Franz Hengsbach (1910–1991) statt.
Die Kirche müsse die Offenlegungen der Taten aushalten, betonte Moritz. Überhaupt bestehe bei ihr die Gefahr, dass sie die Bereiche „Lösung und Erlösung“ nicht scharf genug trenne: „Konkrete Aufgaben kann man nicht mit Ritualen beantworten“, so Moritz. Bei den Anerkennungsleistungen trete er für ein pauschalisiertes Verfahren ein.
Bischof Dieser stimmte zu, dass es einerseits um Seelsorge, Zuhören und Verantwortung gehe und andererseits darum, dass eine „unabhängige Kommission mit unabhängigen Experten Bescheide prüft und festsetzt“. Rixen, der der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ des Bundes angehört, hob hervor, dass man „nur dann den richtigen Weg findet, wenn man sich immer wieder auf die Vielfalt der Perspektiven der Betroffenen einlässt“. Für manche von ihnen sei Seelsorge uninteressant, bei ihnen liege die Anerkennung und das Zeichen der Wertschätzung im Geld.
Birgit Mock brachte eine weltkirchliche Erfahrung aus ihrer Arbeit im Synodalen Weg in das Gespräch ein. Es gebe in der „Weltkirche keine Übereinstimmung darin, wie dramatisch die Veränderungen durch den Missbrauch sind“. Wegen dieser Ungleichzeitigkeit der Erkenntnisse müsse man noch eine ganze Zeit darüber öffentlich diskutieren. Dies führe auch zu der Frage, wie sehr die Kirche allein zur Aufklärung in der Lage sei: „Wir schaffen es nicht als Kirche allein“, strich sie heraus. Moritz brachte die Idee einer „Wahrheitskommission“ ins Spiel, während Rixen vor der Position warnte, der Staat solle alles selbst machen. Einig war man darin, dass auch andere große Organisationen, wie beispielsweise Sportverbände, ihre Missbrauchsgeschichten aufdecken müssten. Für Rixen ist entscheidend, wie sich bei der Aufklärung „Unabhängigkeit und Distanz“ organisieren ließen. Klar sei auch nach fünf Jahren, dass „die Enthüllungen noch weitere Namen an die Öffentlichkeit bringen werden“.