Warum sich die deutsche Kirche stärker in der Weltkirche vernetzen muss und Streit zu Veränderung dazu gehört, erläutert Annette Schavan im Interview. Die frühere Ministerin gilt als exzellente Kennerin der römischen Szene und ist heute als Autorin und Rednerin international gut vernetzt. Als wir uns im Schatten des Aachener Doms auf einen Kaffee trafen, kam sie gerade aus Prag, wo sie Thomas Halik, den Autor des Buches „Der Nachmittag des Christentums“ getroffen hatte.
Frau Schavan, Sie waren vier Jahre deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl in Rom. Ihr Resümée?
Es ist großartig, in Rom zu leben.
Sprechen Sie Italienisch?
Si, un poco. (Ja, ein wenig.)
Wie oft sind Sie dem Papst begegnet?
Sehr häufig, allein deshalb, weil die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen aus Deutschland beim Papst immer eine Privataudienz bekommen. Natürlich war ich jedes Mal mit dabei. Insgesamt waren 14 Länderchefs beim Papst, die Kanzlerin drei- oder viermal. Der Bundespräsident ebenfalls häufig.
Klingt nach einem offenen und begegnungsfreudigen Haus.
Es war immer viel los in der Residenz. Ganz zentral war es jedoch, zu spüren, wie stark die katholische Kirche Weltkirche ist. Auf fünf Kontinenten präsent, mitten in der Gesellschaft mit ihren Schulen, Kindergärten, Universitäten, medizinischen Einrichtungen und sozialen Aktivitäten. Dort wo Kirche lebendig ist, steht sie nicht am Rand der Gesellschaft, sondern ist mittendrin. Mit einem ganz außergewöhnlichen Gespür für die interkulturellen Verhältnisse vor Ort - in Asien, Lateinamerika, Afrika, USA und Europa. Grundsätzlich gilt: In Rom findet sich der gesamte Kosmos von Typen und Themen wider. Pax Christi ebenso wie die Legionäre Christi oder das Opus Dei.
Wie oft waren die Bischöfe beim Papst?
Die haben sich bei mir natürlich nicht angemeldet.
Welchen Raum nimmt der Dialog und der Austausch unterschiedlicher Perspektiven in Rom ein?
Ich habe immer eingeladen, um Experten, Theologen, Künstler und Verantwortungsträger miteinander ins Gespräch zu bringen. Da saßen dann beispielsweise Kardinal Walter Kasper und der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide aus Münster, die die Rolle der Barmherzigkeit im Islam und Christentum diskutierten. Aber auch Georg Gänswein oder Navid Kermani beisammen, die über Kermanis Buch „Gläubiges Staunen“ debattierten.
Sie haben offensichtlich eine deutsche Enklave des interkulturellen Austausches in Rom geschaffen. Wie blickt der Papst auf Deutschland?
Seit vielen hundert Jahren schaut Rom wachsam auf Deutschland. Frei nach dem Motto: Wer einen Reformator hervorbringt, wer weiß, was der sonst noch im Schilde führt. Der Papst selbst pflegt eine große Hochachtung gegenüber Deutschland. Die Entscheidung der Kanzlerin, die Grenze während der Flüchtlingskrise 2015 nicht zu schließen, hat uns ein großes Ansehen in Rom beschert. Diese Form der Barmherzigkeit sprach dem Papst aus dem Herzen. Er ist ein Papst, der die sozial-ethischen Fragen immer ganz stark macht. Deshalb schätzt er Deutschland auch sehr, weil hier nach dem Krieg die zahlreichen katholischen Hilfswerke wie Adveniat oder Misereor mit vielfältigen Angeboten weltweit unterwegs sind. Und dann gibt es die Skepsis. Frei nach Obelix heißt es in Italien: Die Deutschen, die spinnen. Das ist aber nichts Schlimmes.
Wie verfolgen Sie den Synodalen Weg und welche Strömungen vernehmen Sie aus Rom?
Nun, die Bischöfe sind ja derzeit zum Ad-limina-Besuch in Rom. Natürlich gibt es in der Weltkirche Spannungen, weil viele sagen: Katholisch sind wir nur solange, wie wir nichts Relevantes verändern. Diese Fraktion gibt es. Mein Kommentar zum Synodalen Weg ist: Sucht das Gespräch in der Weltkirche. Die Deutschen schreiben gerne Papiere. Und sind natürlich auch davon überzeugt, dass diese niemand so gut schreiben kann wie sie selbst. Das will ich auch nicht in Zweifel ziehen. Aber der Rest der Welt…
… schreibt nicht so viele Papiere?
… sagt dann wieder, die Deutschen haben wieder ein Papier geschrieben. Stattdessen empfehle ich, miteinander zu sprechen und in den Austausch zu kommen. Mit Vertretern aus Afrika, mit Professoren katholischer Universitäten, engagierten Ordensfrauen, die sich zur Rolle der Frau auseinandersetzen und anderen. Für den Erfolg der Reformen wird entscheidend sein, wie wir uns in die Weltsynode einfädeln. Es ist unheimlich wichtig, dass die verschiedenen Gruppen nicht immer weiter auseinanderdriften und nur noch schlecht übereinander reden und das Teuflische beim anderen sehen. Dazu gehört auch die Überlegung: Was verbindet uns eigentlich? Wir dürfen nicht immer unter uns bleiben oder nach Rom schielen.
Nutzt Rom das Lagerdenken oder die Polarisierung, das auf der jüngsten Synodalversammlung sichtbar wurde, um eigene Interessen durchzusetzen?
Ich sage es kurz und schmerzhaft. Wenn aus Rom ein Papier mit irgendwelcher Kritik kommt, können Sie davon ausgehen, dass der Auftrag dazu aus Deutschland gekommen ist.
Kennt der Papst diese Papiere?
Das weiß ich nicht. Rom ist vielfältig.
Wieviel Streit gehört zu derlei Veränderungsprozessen dazu?
Weder Bischöfe noch Laien sind sich einig, was Erneuerung der Kirche heißt. Da geht es nicht anders zu als der Politik. Es muss dann ein Format gefunden werden, wie man mit verschiedenen Wahrheiten klarkommt. Ich finde Streit überhaupt nicht schlimm. Es müssen nicht immer alle einer Meinung sein.
Die Laien fordern Demokratie in der Kirche. Fördert oder verhärtet dieses Mantra die Suche nach einer Lösung?
Vieles, was gefordert wird, wurde bereits bei der Würzburger Synode 1975 gefordert. Für manche ist Demokratie ein Aufreger. Diejenigen, die sie fordern, meinen damit nicht ein Parlament und die Spielregeln einer liberalen Demokratie. Dahinter steckt vielmehr – und das wird an massiver Bedeutung gewinnen- dass Christen auch Anteil haben am Weg ihrer Kirche. Es braucht mehr Partizipation. Wie soll denn Gemeinde vor Ort möglich werden, wenn nicht Menschen ermutigt werden, Verantwortung zu übernehmen. Wir erleben doch gerade einen massiven Rückzug. Die Führungsaufgabe liegt eigentlich darin, unsere Stadtgesellschaft, unsere Gemeinden und den ländlichen Raum zu ermutigen, Verantwortung zu übernehmen.
Wie sprachlos macht die schleppende Missbrauchs-Aufarbeitung die Kirche?
Die Kirche erlebt einen rasanten Autoritätsverlust. Es ist schwer zu erklären, warum das, was seit 2010 bekannt ist, zwölf Jahre Debatte braucht. Davon wird sich Kirche nicht so schnell erholen. Umso wichtiger ist es, positive Zeichen zu setzen. Trauer, Angst und Freude berühren das Herz vieler Menschen. So viel liegt auf der Seele. Für mich war es ein großartiges Bild, als der Papst am 27. März 2020 beim außerordentlichen Urbi et Obi-Segen auf dem regennassen Petersplatz sagte: „Ich halte die Ungewissheit mit Euch aus.“ Es ist wichtig, dass die Kirche aus dem großen Fundus an Zeichen und Ritualen Orte schafft, wo Menschen Zuflucht finden.
Umkehrt gab es auch das Bild des einsamen Papstes beim Hochamt zum Osterfest. Das Bild einer Kirche, der niemand mehr folgt?
Die Pandemie hat viele Spannungsfelder aufgedeckt. Es ist vieles klar geworden, was schon früher zu erahnen war, aber niemand wahrhaben wollte. Das gilt auch für die Kirche. Dann ist es eben mal so, dass einer vorne alleine sitzt und niemand mehr zuhört. Das muss man nur nicht für einen Dauerzustand halten.
Zuflucht, Barmherzigkeit und Hoffnung. Wie stark können diese Kräfte aus der Starre der multiplen Krisen befreien? Oder anders gefragt: Wo sehen Sie als langjährige Spitzenpolitikerin die Parallelen zwischen Kirche und Politik? Wer versagt wo?
Ich spreche nicht von Versagen. Das Schlüsselwort ist Transformation. Ganz viel, von dem was mal richtig war, ist heute falsch. Wer heute führt, muss ein gutes Gespür fürs Abschiednehmen haben. Wir können uns nicht an Dinge klammern, die einfach vorbei sind. Wer Verantwortung trägt, muss zuhören können und auch seine Positionen immer wieder hinterfragen. Und was die Kirche anbelangt, bin ich überzeugt. Es gibt so vieles zu tun. Dafür brauche ich weder einen Pfarrer noch einen Bischof. Das können auch Ehrenamtler. Das müssen diese auch selbstbewusst machen.
Das Gespräch führte Marliese Kalthoff
Annette Schavan.
„Alles hat seine Zeit“, der Spruch aus dem Buch Kohelet zieht sich wie eine Richtschnur durch das Leben der ehemaligen Ministerin, Autorin, Rednerin und vehementer Streiterin für eine interkulturelle Verständigung. Annette Schavan, 1955 in Neuss geboren, studierte Theologin und bekennende Rheinländerin war von 2014 bis 2018 deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Im Gespräch mit Update erzählt sie, warum Rom grundsätzlich argwöhnisch auf Deutschland blickt, der Papst dagegen wertschätzend und Schreiben aus dem Vatikan meist aus Deutschland bestellt sind. Zu Aachen pflegt die mit vielfältigen Ehrendoktor-Würden ausgezeichnete Spitzenfrau eine ganz besondere Beziehung. In den 80er-Jahren kümmerte sie sich in der Abteilung Pastoral, Bildung, Schule des Bischöflichen Generalvikariats um ihre Leidenschaft: Bildung. „Ich liebe Aachen. Nicht nur wegen des Doms.“