Aachen. Was bleibt, wenn die letzten Zeitzeugen des Holocaust verstorben sind? Wenn nicht mehr Menschen wie etwa Margot Friedländer davon erzählen können, wie Hass, Hetze oder rassistische und antisemitische Propaganda zur millionenfachen Ermordung und Vernichtung von Leben führen? Diesen Fragen geht die KirchenZeitung im Bistum Aachen in ihrer aktuellen Schwerpunkt-Ausgabe unter dem Titel „Erinnerung und Mahnung“ nach und lässt unter anderem Historiker und Psychologen zu Wort kommen. Anlass ist der 80. Jahrestag der Operation Queen, die die Zerstörung von Düren, Jülich und Heinsberg zur Folge hatte.
Unter dem Decknamen „Operation Queen“ starteten die US Air Force und die Royal Air Force den größten strategischen Luftangriff des Zweiten Weltkriegs zur Unterstützung der Bodentruppen. Tausende Bomber waren im Einsatz, die ersten Bomben fielen über dem Gebiet von Eschweiler, Weisweiler, Lagerwehe, Dürwiß und Hehlrath, auch Linnich, Aldenhoven und weitere Ziele wurden angegriffen. Hauptziel des Tages war die möglichst vollständige Zerstörung von Düren, Jülich und Heinsberg, um Straßenverbindungen und den Nachschub für die deutsche Front zu unterbrechen. Der Historiker Guido von Büren, Mitherausgeber des Buches „Zwischen ‚Führer‘ und Freiheit. Bombenkrieg und ‚Befreiung‘ an der Rur“, spricht im Interview darüber, warum Krieg und Zerstörung nur selten aus heiterem Himmel kommen – und wie Erinnerung und Mahnung in Zukunft ohne Zeitzeugen funktionieren können. Er betont: „Es ist die Aufgabe der jüngeren Generationen, selber Formen des Erinnerns zu entwickeln, die ihnen zeitgemäß erscheinen. Unser Plan als Museum Zitadelle ist es, mit den weiterführenden Schulen in Verbindung zu kommen, sie inhaltlich zu begleiten. Was bei diesem Prozess herauskommt, mag radikal anders sein als das, was wir heute für gesetzt ansehen. Wir sollten aber generell mehr Vertrauen in die aktuell jüngere Generation haben.“
Wären der Holocaust und die nationalsozialistische Verfolgung allein durch führende NS-Politiker an Schaltstellen der Macht möglich gewesen? Die Ausstellung „Some were neighbors – Einige waren Nachbarn“ des United States Holocaust Memorial Museums, die noch bis zum 5. Dezember im Rathaus der Stadt Düren zu sehen ist, thematisiert Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand in der NS-Zeit. Sie stellt die Frage in den Raum, ob es für Ausgrenzung, Deportationen, offene Gewalt in der Reichspogromnacht bis hin zum Massenmord nicht ein Mitwirken der Gesellschaft brauchte. Ganz „gewöhnlicher Menschen“, die die nationalsozialistische Rassenpolitik aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlichem Ausmaß unterstützten und akzeptierten – oder wegschauten, nichts unternahmen. Die Kirchenzeitung hat Sozialpsychologin Fiona Kazarovytska interviewt, die zum kollektiven Gedächtnis und dem Umgang mit Geschichte in der Gesellschaft forscht. Sie sagt: „Gerade in den letzten Jahren wurden wir mit verschiedenen Ereignissen konfrontiert, die bei vielen Menschen große Verunsicherung ausgelöst haben: Kriege wie in Syrien oder der Ukraine, vor denen viele Menschen fliehen, die Covid-19-Pandemie, sich häufende Umweltkatastrophen, wirtschaftliche Unsicherheiten und Inflation. Rechtspopulistische Stimmen nutzen diese komplexen Probleme, um Ängste zu schüren und schlagen scheinbar einfache Lösungen vor. Dabei erweitern sie zunehmend den Raum des Sagbaren. Gestern habe ich in einem Interview gehört, dass Donald Trump Migranten und Migrantinnen als Tiere bezeichnet hat. Das ist in meinen Augen eine gefährliche Entwicklung.“
„Erinnerungskultur verändert sich ständig“, sagt Dr. Helmut Rönz. Er leitet das Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Und erinnern ist auch ohne Zeitzeugen möglich, wie er im Interview mit der KirchenZeitung betont.
„Die Spezifika von Zeitzeugenaussagen sind natürlich nicht ersetzbar. In der Geschichtswissenschaft gibt es für die NS-Zeit noch zahlreiche Quellen, die geborgen, gelesen, interpretiert und eingeordnet werden müssen. Schwieriger ist die Sicht auf die politischen und historischen Bildungsangebote. Hier muss man über neue Formen nachdenken. Möglicherweise digital wie das Zeitzeugenportal des Hauses der Geschichte, über Wissensportale, partizipative Angebote oder eben über analoge Formate wie Stolpersteine und Routen, die wiederum digitale Dimensionen erhalten müssten“, betont Helmut Rönz.