Zähne wie Nadelspitzen, täglich frisch geschliffen, Farbe silber-orange, metallisches Leuchten unter Wasser - die Pirañas sind da.
Wir sind weiter unterwegs auf unserer Sommerreise am Napofluss. Im und um den Nationalpark Yasuní wird der Napo immer breiter. An der peruanischen Grenze misst er bis zu zwei Kilometer. In der Regenzeit, in der es noch mehr regnet als sonst im Regenwald, überschwemmen der Fluss und seine Nebenflüsse den Wald und füllen die Moore auf. Überall in der Region gibt es riesige Moore. Sie sind seit Urzeiten Brutstätten, Speisekammern und Zufluchtsorte für das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen des Urwaldes. Im Inneren der Moore liegen die Lagunen. Hier laichen elektrische Fische und brüten die Aras. Hier kommen Anakondas und Krokodile zur Welt, trinken Tapir, Affe und Puma, wenn überall sonst die Quellen trocken sind. Vor Jahrhunderten bauten die Menschen hier ihre Dörfer, brannten die Keramik, die heute noch zu finden ist, fanden Versteck und Zuflucht vor den weißen Eroberern, Sklavenhaltern und Kautschukbaronen. Hier leben die Pirañas.
Als mein Naporunakollege Alfredo einmal gefragt wird, ob er denn keine Angst habe vor den Pirañas, weil sie doch Menschen fressen, meint er mit einem lustigen Grinsen in den Augen: "Nein, die Pirañas essen uns nicht. Wir essen die Pirañas." Pirañas lassen sich relativ leicht fangen. Mit dem Stück Schwanz eines anderen Fisches oder mit Hühnerdarm gehen sie schnell an die Angel. Gewusst wie und schon liegen sie im Boot des Anglers. Aber die Kunst des Jagens beginnt erst jetzt. Sie springen hin und her und müssen getötet werden, bevor sie Zeit bekommen, mit einem schnellen Biss den Finger oder Zeh des Angreifers zu schnappen und noch schnell abzubeißen. Auch einen Sprung über die Bootskante schaffen sie leicht und zurück in die Lagune. Wenn Mensch Glück hat, gibt es zum Abendbrot frisch und knusprig gebratene Pirañas mit Yukawurzeln. Pirañas sind die Saubermänner der Lagunenwelt. Sie fressen verletzte oder tote Tiere, greifen aber, im Gegensatz zu ihrem Ruf, gesunde Menschen und Tiere nicht an.
Beim Sonnenaufgang mit den Naporunas die Lagunenwelt zu durchstreifen ist ein absolut einzigartiges Erlebnis, eintauchen in eine wunder-volle Welt. Dichter Nebel in der Nacht wird ganz plötzlich und ohne Dämmerung von gleißender Sonne durchstrahlt und verschwindet. Mit ihm verschwindet die allgegenwärtige Geräuschkulisse der Nachttiere, summende Insekten, kreischende Fledermäuse, rufende Krokodile, manchmal ein Schreck, ein fauchender Puma in der Ferne oder ein Brüllaffe ganz in der Nähe. Auf einmal ist es fast still, bevor die tagaktiven Tiere beginnen, langsam den See für sich einzunehmen. In diesen Augenblicken scheint die Sonne fast horizontal an die Ufer und im schwarzen Moorwasser leuchten die Spiegelbilder zugleich unwirklich und von einer dreidimensionalen Tiefe und Schärfe, die die Wirklichkeit weit übertrifft. Die Hintergründigkeit der Welt wirkt offengelegt - im Spiegel sehen wir sie und uns von innen. "Laguna Encantada", verwunschene Lagune, wird sie genannt.
Auf der Landkarte heißt sie "Hatun Cocha", die große Lagune. Sie liegt ganz in der Nähe des Städtchens Nuevo Rocafuerte im östlichen Zipfel Ecuadors. Mit den Naporuna des Dorfes Alta Florencia kann man sie besuchen oder auch eine Nacht dort verbringen, eintauchen in eine verwunschene Welt, den Krokodilen bei Nacht in die Augen sehen. Auch Alta Florencia hat ein vom Ministerium zertifiziertes Zentrum für Gemeinschaftstourismus aufgebaut SACHA ÑAMPI (Info: https://sachanampi.com/ oder https://www.facebook.com/altaflorencia/ )
Auch sie erhoffen sich vom Tourismus eine Einkommensquelle, die nicht vom Erdöl abhängt, die stattdessen ihre Wunderwelt schützen hilft.
WIE LANGE NOCH?