In diesen Tagen stand Maria auf. Sie wanderte eilig durch das Gebirge in eine Stadt Judäas. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet. Und als Elisabet den Gruß Marias hörte, da hüpfte das Kleine in ihrem Bauch. Elisabet wurde mit heiliger Geistkraft erfüllt, und sie brach mit lauter Stimme in die Worte aus: »Willkommen bist du unter Frauen, und willkommen ist die Frucht deines Bauches! Woher weiß ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Siehe, als der Klang deines Grußes in mein Ohr drang, da hüpfte das Kleine in meinem Bauch voller Jubel. Glücklich ist, die geglaubt hat, dass sich erfüllen werde, was die Lebendige zu ihr gesagt hatte.«!
Lukasevangelium, Kapitel 1, Verse 39-45
Diese Stelle gehört zu den übersehenen Schätzen der Tradition. Der in das katholischste aller Gebete, das Ave Maria, aufgenommene Vers aus diesem Evangelium lautet in der gängigen Übersetzung "Gesegnet ist die Frucht deines Leibes". So bekannt ist dieser Vers, dass sein Überraschungspotential mittlerweile unsichtbar geworden ist.
Aber in der antiken Vorstellung wusste man zwar um den Zusammenhang von Sex und Schwangerschaft, aber es war noch völlig unbekannt, dass ein Kind aus den Erbanlagen von beiden Elternteilen erwächst. Und weil man noch keine Eizelle kannte, Samenflüssigkeit hingegen schon, galt Zeugen als rein männliche Tätigkeit. Das Weibliche kann in dieser Vorstellung nicht zeugen, übrigens auch nicht auf der symbolischen Ebene, weswegen die heilige Geistkraft nicht der Papa von Jesus sein kann, da sie im Hebräischen, wenn sie auf Gott hin verwendet wird, weiblichen Geschlechts ist. Bei der Ankündigung des Engels, dass Maria schwanger werden würde, weil die heilige Geistkraft sie überschatten würde, geht es darum so gar nicht um die körperlichen Aspekte des Ganzen. Es ist eine Geschichte und will auch eine sein.
Nur Männer also können in dieser Vorstellung zeugen, sie pflanzen das Kind gleichsam ein und die schwangere Frau trägt es dann aus. In den biblischen Schriften findet man leicht Belege dafür, am ausdrücklichsten in Dtn 7,13 in der Rede des Mose an die Männer des Volkes: "[JHWH] wird segnen die Frucht deines Leibes und die Frucht deines Ackers [...], so, wie er es deinen Vätern geschworen hat, es dir zu geben.“
Wenn nun Elisabeth Marias Ungeborenes als "Frucht deines Leibes" bejubelt - und da sie Maria anspricht, eben vom Kind als Leibesfrucht der Mutter spricht -, dann ist das in diesem Kontext etwas total Besonderes. Diese Frau, Maria, braucht keinen Mann, um schwanger zu werden. Sie gehört niemandem außer Gott. Und auch ihr Kind gehört niemandem außer Gott. Kein Vater kann Ansprüche auf diesen Erstgeborenen und seine Mutter erheben. Hier bricht sich etwas Bahn, das alle diese männlich-patriarchalen Logiken aushebelt, so gründlich, dass Maria niemals als "die Frau des Josef" bekannt werden wird, sondern eine Frau mit einem Eigenstand wird: Sie wird zu Maria von Nazareth. Und ihr Kind, Jesus von Nazareth, wird die männlich-patriarchalen Logiken seiner Zeit ebenfalls aushebeln. Er wird Frauen wie Männer in seine Nachfolge rufen, und unter ihnen wird es keine Hierarchien geben. Er wird selbst seine soziale Männlichkeit aufgeben, weil er sich dem Tod durch Kreuzigung nicht entziehen wird, womit der Verlust dieser sozialen Männlichkeit verbunden ist.
Maria bekommt dieses Kind selbst, und als prophetische Handlung soll sie ihm den Namen Jesus geben, das kommt von Jeschua, und das wiederum bedeutet "Rettung". Und auch das ist keine Aussage über den körperlichen Aspekt des Ganzen. Es täte dem Glauben nicht gut, diese symbolische Sprache, die Sprache des Glaubens und der Träume, zu benutzen, um damit einzufordern, etwas biologisch-faktisch selbstverständlich Unmögliches für wahr halten zu sollen. Gott fordert von uns kein Opfer des Verstandes, wäre es nun ein großes oder auch ein kleineres.
Zwei Frauen begegnen sich, beide von Gottes Gegenwärtigkeit erfüllt. Willkommen, sagt die Ältere zur Jüngeren, gesegnet ist die Frucht deines Bauches: Hier wird männliche Vorherrschaft und männlicher Besitz einfach mal abgeräumt. Das ist programmatisch, damit fängt alles an. So hätte es weitergehen können, so kann es weitergehen.