Der Eingangsvers zum ersten Adventssonntag ist der Anfang von Psalm 25:
Nach dir, Ewige, strecke ich meine Seele aus, mein Gott
Auf dich vertraue ich, lass mich nicht scheitern,
lass meine Feinde nicht über mich triumphieren.
Die genannte Seele ist im Hebräischen wörtlich die Kehle: Da, wo ich am verletztlichsten bin, da, wo es mir den Hals zuschnürt, aber auch da, wo ich erleichtert aufatme, wo mein Lebenshunger spürbar und mein Begehren hörbar wird - da ist meine Gottesbeziehung zu Hause. Denn die Seele, das, was mich lebendig macht, ist mein Anteil am Lebensatem Gottes und damit zugleich das, was mich mit allen anderen atmenden Geschöpfen auf dieser Welt verbindet.
Und die Feinde, die es manchen Menschen mühsam machen, sich den Psalmen zu nähern? Feinde und Feindliches gibt es genug in der Welt, vielleicht täte es manchmal gut, das auch auszusprechen, aber in Gottes Ohr und damit in einen Bereich, der nicht eigenes feindliches Handeln nach sich zieht. Denn die Psalmen sprechen aus einer Ohnmachtsperspektive: Sie sprechen aus der Position derer, die Gewalt erleiden, und nicht aus der Position derer, die die Mittel haben, solche Gewalt auch auszuüben. Man möchte sie mit einem Warnhinweis versehen: Achtung, darf nicht in die Hände von Mächtigen gelangen! Denn wenn die Psalmen genommen werden, um Gewalt zu legitimieren, dann verlieren sie ihre befreiende Dimension.
Vielleicht tut es auch einmal gut, als die Feinde die eigenen inneren Feinde zu verstehen, die doch so viele von uns mit sich herumtragen - all die unbarmherzigen Stimmen, mit denen sich Menschen selbst verurteilen und abwerten. Der Psalmvers sagt: Wenn ich sie Gott zeige, dann können sie ihre Macht über mich verlieren.
Aber an Psalm 25 ist noch mehr zu entdecken. Im Hebräischen ist er nämlich so gestaltet, dass jeder Vers mit dem jeweils folgenden Buchstaben im hebräischen Alphabet - bzw. Alefbetgimel - beginnt, und so beginnt er mit dem ersten Buchstaben, dem Alef: Aleicha JHWH nafschi esah elohai. Auch die lateinische Version beginnt mit dem A: Ad te levavi animam meam, Dominus meus...
Der erste Psalmvers setzt mit dem A einen neuen Anfang. Und der ganze Psalm sagt: Es geht ums Ganze, von Alef bis Tav, von Alpha bis Omega, von A bis Zett. Er spricht davon, dass die Wege Gottes zuverlässig sind: So liegt es im Namen Gottes. Er spricht von Gottes Freundlichkeit und bittet: Mach die Enge meines Herzens weit, neige dich mir zu, bewahre mich. Und er mündet ins Vertrauen: Bei dir berge ich mich, auf dich hoffe ich. Alles das beginnt, alles das kann beginnen, wenn und weil am Anfang steht: Zu dir, Ewige, erhebe ich meine Seele.
So kann der Advent beginnen, Zeit des Anfangens, denn was da neu anfängt, das steht ja ganz in der Tradition der Hebräischen Bibel, es löst sie nicht ab.
Das Kirchenlied "Zu dir, o Gott, erheben wir, die Seele mit Vertrauen" ist ebenfalls eine Nachdichtung von Psalm 25, getextet von Caspar Ulenberg im Jahr 1582. Nach seiner Melodie - im Gotteslob unter Nr. 142 - lässt sich auch folgende alternative Nachdichtung des Psalms singen:
Nach dir streck ich mein Leben aus
denn du sagst, ich genüge.
Lebendige, ich atme auf
für hier, für jetzt in Frieden
In deiner großen Freundlichkeit
die über uns gebreitet bleibt
wirst du mich wohl bewahren.
Du neigst dich zu, du bleibst uns treu
Lebendige, du Eine.
Mach meine Herzensenge weit
dein Name soll mich leiten
Zieh mich aus meiner Dunkelheit
aus dem, was mich gefangen hält
Und geh mir auf in Gnaden.
Nach deinen Spuren suche ich
und finde reichen Segen.
denn so, wie du entzogen bist
kommst du uns doch entgegen.
Du gibst mir Atem Tag für Tag
den deine Hand mich tragen mag
vom Abend bis zum Morgen.
// Annette Jantzen