„Antisemitismus niemals unwidersprochen lassen“

Interkultureller Dialog als Kontrapunkt zur Angst in Europa

Datum:
Do. 9. Mai 2024
Von:
Stabsabteilung Kommunikation

Aachen, 9. Mai 2024 - Der Bischof von Aachen, Dr. Helmut Dieser, hat davor gewarnt, dass in Deutschland, Europa und weltweit Antisemitismus wieder politisch korrekt gemacht werden soll. „Als Angehöriger des Volkes, das für die Shoa, den systematischen Massenmord an sechs Millionen jüdischen Menschen in Europa, verantwortlich ist, empöre ich mich zutiefst darüber und rufe alle Landsleute auf, niemals mehr Antisemitismus unwidersprochen zu lassen oder gar die zu wählen, die sich nicht überzeugend davon distanzieren“, betonte Dieser am Himmelfahrtstag in seiner Predigt beim Festhochamt im Aachener Dom aus Anlass der diesjährigen Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen. „Umso mehr freue ich mich, dass der Internationale Karlspreis 2024 an Pinchas Goldschmidt und die jüdischen Gemeinschaften in Europa dagegen ein unübersehbares Zeichen setzt.“

Ausdrücklich lobte der Bischof, dass der Internationale Karlspreis zu Aachen mit den Preisverleihungen der vergangenen drei Jahre weltweit drei unüberhörbare und unaufgebbare Identitätszeichen Europas verbreitet habe: 2022 sei der Karlspreis an die drei belarussischen Bürgerrechtlerinnen Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo gegangen, 2023 sei er an den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, und an das ukrainische Volk verliehen worden, das mehrheitlich nach Europa strebe und sich der Europäischen Union anschließen wolle, weswegen es von Russland einem verbrecherischen Angriffskrieg unterworfen werde. Nach Auffassung Diesers machen die Herrschaft des Rechts nach innen und nach außen, die Gewaltenteilung im Inneren, das Gewaltmonopol des Staates ausschließlich zur Durchsetzung des Rechts und eben nicht des Unrechts Europa aus und bringen eine grundlegende Friedfertigkeit nach außen sowie eine Integrationsfähigkeit von Minderheiten nach innen hervor. „Ich freue mich sehr, dass die drei zurückliegenden Preisverleihungen insgesamt diese Botschaft sehr stark hervorheben, hob Dieser in seiner Ansprache hervor. „Die akuten Bedrohungen Europas, die mit diesen Preisverleihungen markiert werden, sind weiter aktuell und brandgefährlich.“


In seinen weiteren Ausführungen bezeichnete Dieser drei Forderungen, die Pinchas Goldschmidt  deswegen an Europa aufgestellt habe, als „unverzichtbar und zukunftsweisend“. Im Blick auf die in diesem Jahr anstehenden Europawahlen lägen darin sogar drei Qualitätsmerkmale europäischer Politik, die diejenigen erfüllen müssten, die für Europa kandidierten, und die umgekehrt den Wählerinnen und Wählern Kriterien für ihre Wahlentscheidung böten. Goldschmidt fordere, dass Menschen unterschiedlichster religiöser und kultureller Herkunft in Europa ihren Platz finden müssten, der interkulturelle Dialog, die Fähigkeit zur Begegnung und zum vorurteilsfreien Austausch nach Kräften gefördert werden müssten und dass schließlich alle, die in diesen freien Dialog eintreten und an ihm beteiligt sein wollten, niemals die europäischen Werte infrage stellen dürften. „Es macht unseren diesjährigen Preisträger persönlich so überzeugend, dass er selbst nicht nur diese Forderungen aufstellt, sondern sein ganzes Lebenswerk davon geprägt ist, sie zu verwirklichen“, lobte Dieser. „Je mehr aber seine Forderungen diskutiert und miteinander angestrebt werden, desto mehr schwindet in Europa die Angst vor der Zukunft und die Angst, alles zu verlieren, was Europa ausmacht.“ Gerade solche Ängste seien es, die derzeit Europa von innen bedrohten, weil sie die Verlockungen populistischer Parteien so anziehend machten. „Säkularismus und Pluralismus alleine können noch keinen Zusammenhalt stiften und keine Identität“, mahnte der Bischof von Aachen. „Im Gegenteil: Sie lassen alles möglich erscheinen. Und wenn alles möglich ist, dann auch das, was mir Angst macht.“ Angst aber führe zur Blickverengung und zur Sehnsucht nach Priorisierung, ja nach Reduzierung von Komplexität. Reduzierung aber könne in Intoleranz, Desintegration und Ausgrenzung und damit in neues Unrecht bis hin zur Gewaltanwendung ausarten, warnte Dieser. Diese Gefahren seien hochaktuell und würden von denen geschürt, die Europa zum Scheitern bringen wollten.

Eine weitere Errungenschaft Europas liegt nach Ansicht Diesers darin, dass heute der Staat in Europa eine religiöse Neutralität angenommen habe, aber religionsfreundlich sei. Beides zusammen mache Europa gegen die Heimatlosigkeiten stark, die von bloßem wachsendem Säkularismus und Pluralismus ausgingen und die die Verführungen der Populisten attraktiv erscheinen ließen. „Als Repräsentant einer der ältesten religiösen Minderheiten in Europa kämpft Pinchas Goldschmidt deshalb für Religionsfreiheit und gegen Einschränkungen religiösen Lebens in Europa“, würdigte Dieser den neuen Preisträger.
 „Ja, Europa schöpft aus seinen jüdisch-christlichen Wurzeln“, bekräftigte Dieser. „Denn diese lassen im einzelnen Menschen und im menschlichen Zusammenwirken eine innere Seele entstehen, die nicht nur Heimat in der Gottesbeziehung stiftet, sondern eine eigene innere Verantwortlichkeit hervorbringt und damit echte Freiheit und moralisches Entscheiden ermöglicht.“ Dass dazu unaufgebbare Werte gehörten wie die Unantastbarkeit des Menschenlebens und seine Würde und die Hochachtung der Familie als Keimzelle jeder Gesellschaft, das gehöre nicht nur zu den europäischen Werten, sondern biete Grundlagen für die globale Dialogfähigkeit. Ausdrücklich fügte der Bischof hinzu: „Jesus von Nazareth, zu dem wir Christen uns bekennen, war Jude, seine ersten Anhänger, die seinen Namen weit über Israel hinaustrugen, ebenfalls. Sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung öffnen uns Christen die Tür, um als Nichtjuden dennoch ganz und gar zu dem Gott Israels und zu den Kindern Abrahams zu gehören.“ Israel trage die Berufung seines Gottes, Licht für alle Völker zu sein, merkte Dieser mit Nachdruck an. Als Christ glaube er, dass Gott in dem Juden Jesus und seinem Lebenswerk und im Wirken seines Heiligen Geistes diese universale Berufung Israels geschichtlich unwiderruflich wahrmache. „Ich bin überzeugt: Darin liegen die Grundlagen der tiefsten und weitreichendsten menschlichen Hoffnung“, unterstrich der Bischof. „Alles, was uns als Einzelne bedroht, alles, was unser Zusammenleben vergiftet und was zu religiösem oder politischem Extremismus führt, kann dadurch identifiziert und überwunden werden.“

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