Die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle sind ein Wunderwerk. Wer schon einmal dort in den Vatikanischen Museen ganz früh die Sixtina besuchen konnte, bevor die Menschenmassen den Raum allzu unübersichtlich machen, und dann seine Blicke schweifen lassen konnte, der konnte eigentlich nur überwältigt sein: Überwältigt ob der Fülle von Bildern, in die man hineingestellt ist; überwältigt von den Geschichten, die mit diesen Bildern erzählt werden; überwältigt von der Präzision, wie der Künstler auf riesigen Wandflächen doch mit größter Detailverliebtheit gemalt hat; überwältigt von den Extremen menschlichen Lebens, die sich besonders im großen Weltgericht an der Stirnwand der Kapelle versichtbaren, wo Himmel und Hölle, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Frieden und Fluch so nahe beieinander sind.
Seit der vergangenen Woche können wir in der Citykirche nun dauerhaft teilhaben an diesem künstlerischen Kraftquell, der in tiefste geistliche Dimensionen zu führen vermag. Denn nach der Entwidmung der Albertuskirche hängt nun das Bild des Mönchengladbacher Künstlers Ingo Wegerl in der Citykirche. Eine Arbeit, die sich auf Michelangelos Fresken bezieht, diese aber nicht einfach kopiert, sondern in acht eigenständigen Tafeln neu zusammenfügt. Erschienen sie in der Apsis der Albertuskirche zusammengefügt wie ein einziges Bild, so hängen sie in der Citykirche nun getrennt voneinander nebeneinander an der Brüstung der Orgelempore. So ist besser erkennbar, wie detailverliebt Ingo Wegerl die Emotionalität der vatikanischen Fresken neu interpretiert. Was sich in der römischen Kapelle ob der Fülle von Darstellungen kaum erschließen lässt, zeigt sich den Betrachtenden in der Arbeit von Ingo Wegerl dank der malerischen Konzentration auf einzelne Details gleichsam hautnah:
Wir sehen überdimensional das angstvoll dreinblickende Auge des Propheten, der ob der drohenden Verheißung Gottes ebenso verunsichert ist wie ob der Reaktionen derer, die mit dieser Botschaft Gottes von ihren Irrwegen der Unmenschlichkeit abgebracht werden sollen. Es ist gut, dass wir daran erinnert werden, wie leicht eine Gesellschaft mit billigen und fälschlichen Parolen beeinflussbar ist. Es ist scheinbar heute so leicht, mit wenigen lauten Worten Menschen zu diffamieren, verallgemeinernd Gruppen von Menschen alle in einen Topf zu werfen und ihnen vorzuhalten, das Sozialsystem zu missbrauchen. Laufen wir den Rattenfängern nicht nach, ihnen ist nicht am Gemeinwohl gelegen, ihnen geht es nur um eine Absicherung des eigenen Machterhalts.
Der kraftvolle Zeigefinger Gottes kommt in Michelangelos Werk dem Finger des Adam ganz nahe. Das wohl berühmteste Bild Michelangelos von der Erschaffung des Adam: In der neuen Zusammenfügung Michelangelos Darstellung der Erschaffung des Menschen (der Menschheit) sehen wir die Finger, allerdings weit voneinander getrennt. Es soll verantwortlich sein, die Familienzusammenführung zu unterbinden. Was für ein Widerspruch in sich. Wie weit haben sich die, die sich Christ*innen nennen, von dem christlichen Gedanken entfernt, denen Heimat zu gewähren, die schutzlos den Wirren der Gewalt ausgesetzt sind?
Licht und Schatten, Hoffnung und Verzweiflung, Sehnsucht und Trübsal zeigt sich in den acht Tafeln: Vor allem in den verschiedenen Gesichtern, die auf den Tafeln dargestellt sind. In der ursprünglichen Arbeit Michelangelos sind es Menschen des Ersten Testamentes. Sind es in der Replik des zeitgenössischen Künstlers Ingo Wegerl wir? Wir mit unseren Ängsten, die wir anstatt zu hinterfragen zum Anlass nehmen, über andere zu urteilen und Menschen in die Unwegsamkeit totalitärer Systeme zu überlassen, nur damit wir uns sicher fühlen können? Wie gefährlich es ist, dunklen Gestalten in feinem Zwirn hinterherzulaufen, sollten doch alle wissen, die die dunkelste Zeit unserer Geschichte noch nicht vergessen haben. Auch damals haben frei gewählte Parlamentarier mit den Ängsten der Menschen Geschäfte gemacht.
Die neue Arbeit von Ingo Wegerl in der Citykirche kommt zur rechten Zeit als Mahnung in die Mitte unserer Stadt. Tatsächliche Ängste ernst zu nehmen, sollte selbstverständlich sein. Irreale Ängste zu schüren und Misstrauen zu säen, statt Vertrauen aufzubauen; sich dem entgegenzustellen allerdings sollte nicht minder selbstverständlich sein. Es gibt etwas, das sich Christenpflicht nennt. Alles liegt so nahe beieinander – nicht nur in der Arbeit Michelangelos und Ingo Wegerls, auch in unserer augenblicklichen Weltsituation. Es liegt an uns, uns für die Menschlichkeit zu entscheiden, für das Licht, für den Frieden hier mitten unter uns.
Euer Christoph Simonsen