Ansprache zum 2. Advent 2024:
„Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends, und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit“.
Ich möchte mir diesen Satz am liebsten wie ein Mantra in Dauerschleife vorsagen. Wie gern würde ich all das Beschwerliche und Bedrückende ablegen, wenn das nur so einfach wäre.
Ich kann doch nicht ignorieren, dass um mich herum Menschen leben, die ohne Obdach sind.
Ich kann doch nicht verhehlen, dass ich immer pessimistischer werde angesichts der ewigen Vertröstungen unserer Kirchenoberen, Veränderungen bräuchten Zeit, wo meine verbleibende Zeit immer weniger wird und die Hoffnung immer mehr schwindet, dass sich tatsächlich etwas ändert.
Ich kann doch nicht verhehlen, dass ich traurig und hilflos bin angesichts einer immer liebloser werdenden Gesellschaft, die in jedem Fremden sofort einen Schmarotzer erkennen will.
Ich kann doch nicht verhehlen, dass mir der Blick auf die kommenden Wahlen Angst bereitet.
Kurz: Ich kann doch nicht verhehlen, dass die Wirklichkeit beschwerlich, anstrengend, widersprüchlich, bedrohlich ist.
Was nutzt es da, sich in phantastische Nischen zu verkrümeln und ab und zu heile Welt spielen?
„Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt.“
Nein, nicht sich zu verkriechen ist die Lösung; nicht, sich halluzinativ in andere Welten zu beamen.
Baruch, dem dieser Text des 1. Testamentes zugeschrieben wird, hat diesen Text aus dem Exil geschrieben, vier Jahre nach der Zerstörung des Tempel in Jerusalem durch die Chaldäer. Keine rosige Zeit, kein paradiesisches Leben. Aber anstatt in Sack und Asche zu laufen und den Kopf in den Sand zu stecken, setzt er sich – bildlich gesprochen, die Krone der Herrlichkeit auf und lädt uns ein, uns auch dessen zu erinnern, Menschen zu sein, denen eine unkaputtbare Würde geschenkt ist.
„Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat. Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden. Gott aber bringt sie heim zu dir…“
Da ist eine Kraft, die nicht verbittern lässt, auch nicht verzweifeln lässt. Baruch ist davon überzeugt. Und er erzählt von dieser Energie, von dieser göttlichen Kraft.
„Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß“.
Es ist nur ein Wort; Baruch hat dieses Wort mit Leben gefüllt, trotz offensichtlicher Aussichtslosigkeit. Gemeinsam mit Jeremia wurde er nach Ägypten verschleppt und starb dort im Exil. Dieses Wort: Hoffnung. Es ist doch mehr als nur ein Wort; es ist eine Quelle, denn es weist über einen selbst hinaus in eine Zukunft, die neu werden wird. Hoffnung bewirkt Befreiung. Befreiung aus Gefangenschaft.
Worin immer wir heute gefangen sind, sprechen wir einander das Wort „Hoffnung“ zu und vertrauen wir darauf, dass dieses Wort uns auf einen guten Weg der Befreiung führen wird. Denn Hoffnung bedeutet: Nicht aufgeben, nicht verzweifeln, nicht verbittern.
Adventzeit ist Hoffnungszeit. Schenken wir einander die Hoffnung, dass wir auf einem Weg der Befreiung gehen, auch gegen manche Widerstände.