Ansprache zum 1. Advent 2024:
Von wem lernen wir, wie Leben geht? Paulus bietet sich den Bürgerinnen und Bürgern als Vorbild an, wie ein gutes gemeinsames Leben gelingen kann. Wer ist uns Vorbild, ihnen und mir?
Von wem lernen wir das Leben? Von Menschen, die uns die richtigen Fragen stellen und die wirklich neugierig und interessiert auf unsere Antworten sind. Von Menschen, die in die Seele und das Herz schauen möchten, ohne darin mit Gewalt einbrechen zu wollen. Von Menschen, die nicht weglaufen vor der Wirklichkeit, sich aber auch nicht von ihr beherrschen lassen wollen. Kurzum: Von Menschen, die gut und gerne sehen, wenn wir wachsen (wie Paulus sagt), die eine Freude haben daran, wenn wir uns entfalten können.
Letztens sagte mir ein Gast in der Citykirche, dass es ihm ganz schwer falle, in dieser Zeit heute positiv zu denken.‘ So kamen wir ins Gespräch und er erzählte mir, was ihm das Leben so schwer macht: Vor kurzem sei ihm die Diagnose einer schweren und wohl auch unheilbaren Krankheit mitgeteilt worden. In seiner Familie sei ein lieber Mensch von Arbeitslosigkeit bedroht. Irgendwie würde gerade alles zusammenbrechen und er würde sich immer mehr zurückziehen. Seine eigene ungewisse Zukunft, dazu die bedrohlichen Situationen im Allgemeinen, überall sei Krieg das beherrschende Thema und eine diffuse Angst vor der Zukunft sei allenthalben zu spüren. All das läge wie Blei auf ihm und er sähe keinen Halt. Das Gespräch mündete in dem Gedanken: „Mir fehlt ein ermutigender Blick nach vorne. Ich fühle mich so klein und hilflos.“
Mir geht dieses Gespräch bis heute nahe. Gott möchte so sehr, dass wir wachsen. Und die Lebenserfahrung ist so oft eine andere: Wir fühlen uns gefangen und überfordert; und es scheint, als würden wir untergehen im Trubel des Lebens.
Die Worte des heutigen Evangeliums spiegeln die Lebenserfahrung so vieler Menschen heute wieder; des bangenden Gastes bei mir in der Citykirche, aber auch vieler anderen: Das Leben besteht nur aus Turbulenzen. Die Meere toben, Völker sind bestürzt und Menschen sind von Angst getrieben. In dieser Unordnung, in diesem Chaos sollen und müssen wir leben.
Von daher ist die Frage immer noch virulent: Von wem lernen wir, uns in unserem eigenen Leben, aber auch in dieser Welt zurecht zu finden? Wer bringt uns bei, in dieser Welt nicht nur zu überleben, sondern wahrhaftig und erfüllend zu leben?
Paulus ist überzeugt, wir leben, um Gott zu gefallen. Also um dem zu gefallen, der positiv, zuversichtlich und menschenfreundlich auf das Leben in dieser Welt geschaut hat. Erich Fromm hat über die „Kunst zu lieben“ nachgedacht. Die Adventzeit legt uns eine andere Aufgabe nahe, nämlich über die „Kunst zu leben“ nachzudenken.
‚Es ist wahrlich nicht leicht, in unserer Zeit positiv zu denken‘. Viel leichter ist es, den Kopf in den Sand zu stecken und das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Aber Wir könnten die Zeit des Advent gut nutzen, indem wir unser Denken und Fühlen genauer anschauen und uns fragen, ob und wie es uns gelingt, in unseren Begegnungen konstruktiv, positiv, wohlwollend und zugleich doch auch realistisch ins Gespräch zu kommen.
Zu leben lernen wir, indem wir das Leben zu unserem Thema machen. So könnten wir füreinander zu Lehrmeister*innen des Lebens werden.
Gott ist Mensch geworden, um uns zu lehren, auf das Leben zuzugehen, so wie er auf uns zukommt, mit offenen Armen und einem weiten Herzen.