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Ein Interview mit Weihbischof em. Dr. Gerd Dicke:„Demokratie ist zerbrechlich. Sie muss täglich erneuert und verteidigt werden.“

Interview: Weihbischof em. Dr. Gerd Dicke
Weihbischof Gerd Dicke blickt auf prägende Erlebnisse zurück und zieht Parallelen zur heutigen politischen Landschaft. Welche Lehren lassen sich aus der Vergangenheit ziehen, und wie kann der Glaube helfen, aktuelle Herausforderungen zu meistern? Ein Gespräch über Erinnerungen, Werte und den Transfer in die Gegenwart.
Datum:
24. Feb. 2025
Von:
Abteilung Kommunikation

Herr Weihbischof, Sie haben als Kind und Jugendlicher die NS-Zeit erlebt. Was sind Ihre prägendsten Erinnerungen an diese Zeit?

Gerd Dicke: Eine meiner eindrücklichsten Kindheitserinnerungen ist aus dem Jahr 1934. Damals wurde ich Ostern mit sechs Jahren eingeschult. Im Sommer fuhren meine Eltern mit uns Kindern an die Ostsee. Während unseres Urlaubs starb Reichspräsident Hindenburg. Als wir nach Hause zurückreisten, mussten wir mit der Bahn über Berlin fahren. In einem Taxi erlebte ich eine Szene, die ich nie vergessen werde: Im Dunkel der Stadt marschierte die Reichswehr mit gezogenen Bajonetten. Ich wusste damals nicht, was das bedeutete, aber später wurde mir klar, dass dies der Moment war, in dem Hitler sich zum "Führer und Reichskanzler" machte. Es war ein Vorgeschmack auf das Dunkle, was noch kommen würde.

Sie waren 1944 noch sehr jung, wurden aber schon für den Krieg eingezogen. Wie haben Sie das erlebt?

Gerd Dicke: Ich wurde mit 16 Jahren zur sogenannten "Heimatflak" eingezogen. Das war die Zeit nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler. Ich werde nie vergessen, wie ich durch die Buna- und Leuna-Werke kam, umgeben von Zerstörung. Die Atmosphäre war gespenstisch. Die Offiziere standen unter Hausarrest, es herrschte Misstrauen und Angst. Man spürte, dass das Regime in Panik war, aber gleichzeitig wurde weitergekämpft, obwohl der Krieg längst verloren war.

Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Zeit?

Gerd Dicke: Das Wichtigste: Unsere heutige Demokratie ist ein Segen im Vergleich zur damaligen Diktatur. Aber Demokratie ist zerbrechlich. Sie muss täglich erneuert und verteidigt werden. Menschen erwarten viel vom Staat, von der Kirche, von der Gesellschaft – aber zugleich wollen sie ihre persönliche Freiheit. Das ist eine Spannung, die immer schwieriger zu lösen sein wird. Nie war die persönliche Freiheit so groß wie heute, aber gleichzeitig wächst die Herausforderung, die Gemeinschaft funktionsfähig zu halten.

Sie beobachten also mit Sorge, was derzeit in der Gesellschaft passiert?

Gerd Dicke: Ja, man kann nicht leugnen, dass es besorgniserregende Entwicklungen gibt. Radikalisierungstendenzen nehmen zu und das nicht nur in Deutschland. Wir sehen das überall – ob in den USA, in Europa oder anderswo. Trotzdem glaube ich an das Gute im Menschen. Wenn Not groß genug wird, können sich Menschen auch wieder auf das Wesentliche besinnen.

Welche Rolle kann die Kirche in dieser gesellschaftlichen Entwicklung spielen?

Gerd Dicke: Die Kirche hat eine besondere Aufgabe: Sie kann helfen, die Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft zu wahren. Jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum, aber er ist auch auf Gemeinschaft angewiesen. Beides muss in Einklang gebracht werden. Die Kirche verkündet den Glauben an den Gott, der jeden Menschen erschaffen hat, aber als Gemeinschaftswesen. Er ist in seinem Sohn der Bruder aller geworden. Der Glaube kann darum Respekt und gegenseitige Anerkennung fördern, damit die Gesellschaft nicht in Blasen und Parallelwelten abgleitet.

Welche Bedeutung hat die Menschenwürde für Sie?

Gerd Dicke: Jeder Mensch hat eine unantastbare Würde – unabhängig von Herkunft, Religion oder Nationalität. Das ist eine Grundüberzeugung des Christentums. Historisch gesehen ist das keine Selbstverständlichkeit. In vielen Kulturen wurden Menschen außerhalb der eigenen Gruppe als minderwertig betrachtet. Das christliche Menschenbild hat das verändert: Jeder Mensch ist von Gott geschaffen und besitzt Würde.

Sie haben Radikalisierung in verschiedenen Zeiten erlebt – in der NS-Zeit, in der DDR. Sehen Sie Parallelen zu heute?

Gerd Dicke: Ja, es gibt Parallelen. In jeder Diktatur wird Humor zum Ventil. Ich erinnere mich, wie ich in der DDR mit einem Freund unterwegs war. Die Hälfte der Witze, die dort erzählt wurden, kannte ich bereits aus der Nazi-Zeit – sie waren einfach übertragbar. Das zeigt, dass bestimmte Mechanismen von Unterdrückung und Ideologie sich wiederholen. Aber es gibt auch Unterschiede. Heute verbreiten sich radikale Ideen durch digitale Medien unglaublich schnell. Damals war es undenkbar, dass eine Demonstration innerhalb von Stunden Tausende Menschen mobilisieren konnte.

Was raten Sie jungen Menschen für die Zukunft?

Gerd Dicke: Vergesst nie den Unterschied von rationaler Erkenntnis, die heute so erfolgreich und nötig ist, aber immer Grenzen haben wird, und Herzenskraft des Vertrauens, die für den Mitmenschen und auch Gott öffnet. Nutzt moderne Technologien sinnvoll – aber lasst euch nicht von ihnen beherrschen. Bleibt kritisch, hinterfragt, seid aufmerksam. Vor allem aber: Vergesst nicht, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Wer Freiheit genießen will, muss auch Verantwortung übernehmen.

Das Gespräch führte Steffi Sieger-Bücken.