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Bistum Aachen bekennt sich zum institutionellen Versagen der Kirche:„Alles dafür tun, um weiteres Leid zu verhindern“

Foto Missbrauch
Aachen, (iba) – „Wir können das unvorstellbare Leid, das auch Kleriker des Bistums Aachen Schutzbefohlenen angetan haben, leider nicht ungeschehen machen, umso mehr gilt es, deren Leid zu lindern und um Verzeihung zu bitten für das Versagen der Institution Kirche“, erklärt der Generalvikar des Bistums Aachen, Dr. Andreas Frick, mit Blick auf die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie, an der sich alle 27 Bistümer in Deutschland beteiligt haben. „Ich kann verstehen, dass Menschen angesichts des Leids, das wir nicht einmal im Ansatz ermessen können, vom Glauben abfallen und das Vertrauen in die Kirche verloren haben. Wir müssen alles dafür tun, um weiteres Leid zu verhindern.“
Datum:
Di. 25. Sept. 2018
Von:
iba

Deutsche Bischofskonferenz: Ergebnisse der MHG-Studie

2014 hatte die Deutsche Bischofskonferenz das interdisziplinäre Forschungsverbundprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ in Auftrag gegeben.

Das Forscherkonsortium aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG-Studie) analysierte einen Untersuchungszeitraum zwischen 1946 bis 2014. Hierfür wurden die Personal- und Handakten aller Diözesen ausgewertet; darüber hinaus untersuchten die Forscher auch die Anträge auf Anerkennung des Leids. Insgesamt wurden in den Diözesen 38.156 Akten durchgesehen. Dabei fanden sich bei 1.670 Klerikern Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger: 1.429 (5,1%) davon waren Diözesanpriester, 159 (2,1%) Ordenspriester mit Gestellungsvertrag und 24 (1%) hauptamtliche Diakone. Bei 58 Beschuldigten war der Klerikerstatus aufgrund der Aktenlage unbekannt.

Auffallend ist, dass bei nur rund 50 Prozent der in den Anträgen auf Anerkennung des Leids in der von der Kirche als plausibel eingestuften Beschuldigten ein entsprechender Eintrag in die Personalakte erfolgte. Das bedeutet, dass bei einer Analyse lediglich der Personalakten - ohne Auswertung der Anträge der Betroffenen - nur die Hälfte der Taten entdeckt worden wäre.

Den 1.670 Beschuldigten ließen sich 3.677 Kinder- und Jugendliche als von sexuellem Missbrauch betroffen zuordnen. Sie waren zumeist männlich und Kinder bis 13 Jahre alt; die meisten Beschuldigten waren bei der Ersttat im Alter zwischen 30 und 50 Jahre alt.

MHG-Studie gesamt

MHG-Studie - Zusammenfassung

Erkenntnisse für das Bistum Aachen

Das Bistum Aachen hat für den Zeitraum von 1934 bis 2016 insgesamt 886 Personalakten und 64 Anträge auf Anerkennung des Leids ausgewertet. Damit geht das Bistum Aachen über den vom Forscherkonsortium geforderten Zeitrahmen hinaus. 55 Männer wurden des sexuellen Missbrauchs beschuldigt: Unter ihnen waren 50 Weltpriester (5,26%), zwei Ordenspriester mit Gestellungsvertrag (0,26%) und ein hauptberuflicher Diakon (0,11%). Bei zwei Beschuldigten konnten die Betroffenen keine genauen Angaben zum genauen Klerikerstand machen.

Im Bistum Aachen waren 86 Kinder- und Jugendliche von sexuellem Missbrauch betroffenen. 58 von ihn waren männlich und die meisten (65%) waren unter 14 Jahre; die Beschuldigten waren bei der Ersttat zwischen 30 und 50 Jahre alt. Die meisten Betroffenen (85,58%) standen zu den Beschuldigten in einer kirchlichen oder seelsorgerischen Beziehung. Fast die Hälfte (39,52%) aller Missbrauchstaten geschah im Zusammenhang privater Treffen, zumeist in den Privat- oder Dienstwohnungen der Beschuldigten. Zum Zeitpunkt der Antragstellung waren von den 55 Beschuldigten nur noch 19 am Leben. Bei zehn Beschuldigten erfolgten von Seiten des Bistums Sanktionsmaßnahmen wie Suspendierung vom Dienst, Entzug des Bischöflichen Auftrages, Versetzung in den Ruhestand, Übernahme der Zahlungen in Anerkennung des Leids durch die Beschuldigten bis hin zur Einleitung des Verfahrens zur Entlassung aus dem Klerikerstand. Insgesamt wurden 26 Strafanzeigen erstattet.

Auch im Bistum Aachen wurde nur bei 22 Betroffenen die Tat in der Personalakte des Beschuldigten vermerkt. „Ganz offensichtlich ist auch im Bistum Aachen bis in die späten siebziger Jahre der Schutz der Institution Kirche über den Schutz der Betroffenen gestellt worden. Dieses institutionelle Versagen der katholischen Kirche empfinde ich als skandalös, denn es steht im absoluten Gegensatz zu dem, woran wir glauben“, betont Dr. Andreas Frick. „Für dieses Vertuschen krimineller Taten können wir nur in aller Demut um Verzeihung bitten. Das Bistum Aachen steht für eine konsequente Haltung der Null-Toleranz, für rückhaltlose Aufklärung, enge Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften und Transparenz. Darüber hinaus müssen wir uns aber auch intensiv mit den Ergebnissen der Studie zu den Ursachen auseinandersetzen.“ Sexueller Missbrauch stelle immer auch einen Missbrauch von Macht dar, der durch hierarchisch-autoritäre Haltungen innerhalb der katholischen Kirche begünstigt werden könne, so das Fazit der Autoren der Missbrauchsstudie. „Mit diesem Thema müssen wir uns als Kirche grundsätzlich auseinander setzen“, erklärt Frick.

Neben Null-Toleranz, lückenloser Aufklärung und struktureller Ursachenbekämpfung sieht der Generalvikar auch die Verantwortung der Kirche gegenüber den Betroffenen. Insgesamt hat das Bistum Aachen 320.000 Euro an Betroffene in Anerkennung des Leids gezahlt. „Dass Anerkennungszahlungen, Therapiegespräche und weitere Interventionsmaßnahmen das erfahrene Leid nicht ungeschehen machen können, ist uns bewusst. Dennoch ist es uns wichtig zu vermitteln, dass wir das Leid der Betroffenen Ernst nehmen und unsere Hilfe anbieten, so gut wir können.“ Dazu gehöre auch, eine Kultur der Achtsamkeit zu schaffen, um künftiges Leid zu verhindern.

Präventionsarbeit im Bistum Aachen - Augen auf, hinsehen und schützen

Seit April 2011 ist im Bistum Aachen die Präventionsordnung für alle deutschen Diözesen in Kraft. Sie formuliert verbindlich konkrete Maßnahmen für alle Einrichtungen und Dienste im Bistum Aachen zum Schutz der anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Seitdem haben alle haupt- und nebenamtlichen Mitarbeiter im Bistum Aachen, die mit Kinder- und Jugendlichen oder erwachsenen Schutzbefohlenen arbeiten, ein erweitertes Führungszeugnis vorgelegt. Seit 2012 gilt diese Pflicht unter bestimmten Voraussetzungen auch für ehrenamtlich Tätige. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass keine verurteilten Sexualstraftäter im Bistum Aachen beschäftigt werden. Alle fünf Jahre muss das erweiterte Führungszeugnis erneut vorgelegt werden.

„Neben dieser formalen Voraussetzung sind uns flächendeckende Präventionsschulungen wichtig. Sensibilisierung für das Thema sexualisierte Gewalt und das Wissen, mögliche Anzeichnen hierfür zu erkennen und Handlungssicherheit zu vermitteln, sind wichtige Grundlagen für eine Kultur der Achtsamkeit“, sagt Almuth Grüner, Präventionsbeauftragte des Bistums Aachen. Zwischen 2012 und 2017 wurden im Bistum Aachen rund 30.000 Mitarbeiter geschult. Hierzu gehören unter anderem Erzieher in Kitas, Lehrer an bischöflichen Schulen, pädagogische Mitarbeiter in der Jugendarbeit, Mitarbeiter im pastoralen Dienst, Gruppenleiter in den Jugendverbänden, Küster, Organisten und Chorleiter. Zudem sind Präventionsschulungen Bestandteile der Ausbildung für Priester, Pastoral- und Gemeindereferenten. Zu den Inhalten der Schulungen zählen: entwicklungspädagogische Grundlagen, Ausmaß und Formen von sexueller Gewalt, angemessenes Nähe- und Distanzverhalten, Täterstrategien, Opferdynamiken und Handlungsstrategien bei Verdachtsfällen. Alle fünf Jahre werden die Schulungen vertieft und intensiviert. Um die Kultur der Achtsamkeit für alle Bereiche des Bistums Aachen sicherzustellen, sind alle Rechtsträger der Diözese Aachen - wie zum Beispiel Pfarrgemeinden und Kindergartenträger - verpflichtet, eine Präventionsfachkraft zu benennen. Rund 200 solcher Präventionsfachkräfte wurden bislang qualifiziert. Ihre Aufgabe ist es, ihre Träger zu unterstützen, Schutzmaßnahmen in ihren Bereichen umzusetzen bzw. einrichtungsspezifische Präventionsmaßnahmen in einem institutionellen Schutzkonzept zu beschreiben. Ziel ist es, die Präventionsarbeit auf diese Weise dauerhaft zu verankern - im gesamten Bistum Aachen. „Die Zeit des Wegschauens muss ein für alle mal vorbei sein“, fordert Generalvikar Dr. Andreas Frick. „Sexualisierte Gewalt darf kein Tabuthema sein. Wir brauchen eine Kultur der Achtsamkeit, um künftiges Leid zu verhindern.“ (iba / Na 077)

 

„Alles dafür tun, dass die Wahrheit ans Licht kommt“ - Statement von Bischof Dr. Helmut Dieser zur MHG-Studie

„In vielen Ländern haben Priester und andere kirchliche Personen über lange Zeiträume hinweg ihre Machtstellung dazu missbraucht, sexuelle Gewalt an Minderjährigen auszuüben.Die Verantwortlichen in der Kirche haben das alles in vielen Ländern nicht wirksam verhindert, sondern lange verdeckt und vertuscht und die Opfer im Stich gelassen. Deshalb kann und muss es uns dazu antreiben, alles dafür zu tun, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und das ist wie ein riesiger Berg mühsamer und schmerzlicher Trauerarbeit, den die Opfer aufgeladen bekamen und den wir mit ihnen abarbeiten müssen. Doch keiner weiß, wie schwer das für die Opfer selber ist, außer ihnen selbst.

Was ihnen angetan wurde, hat das Zeug dazu, vom Glauben abzufallen! Ich traue es uns Bischöfen und unseren Beraterinnen und Beratern noch zu, dass wir gemeinsam die richtigen Schlüsse ziehen und die Weichen für die Zukunft richtig stellen. Wenn ich das nicht mehr könnte, wäre auch ich vom Glauben abgefallen.“